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Frederic Beigbeder
"39,90"


Ein Buch, das gelesen werden soll, muss auf den ersten Seiten überzeugen. Wenn spätestens nach dem zweiten Mal umblättern ich noch immer nicht mitgenommen werde, vom Autor, in die Geschichte des vorliegenden Stückes, verliere ich Interesse. Das führt nicht selten dazu, dass ich das Buch auf den Stapel "Später" lege, oder, handelt es sich um "Pflichtwerke der Weltliteratur" auf den, den ich gerne "Klolektüre" nenne.
Frederic Beigbeder ist es in seinem Durchbruchsroman "39,90" gelungen, mich mit dem ersten Satz zu fangen:

Zitat:
"Alles ist vorläufig, die Liebe, die Kunst, der Planet Erde, Sie, ich."

Ein Bücherregal ist etwas, an dem ich selten vorbeigehen kann.
Wenn ich irgendwo zu Besuch bin, und Bücher entdecke, halte ich nicht lange an mir, ziehe mich dezent zurück und lasse meiner Neugier freien Lauf, weil zum einen die Bücher viel über ihren Bestzier zu verraten imstande sind, und zum anderen natürlich ich in Hoffnung schwelge, etwas zu entdecken, das lesenswert ist.
Und eben genau so stieß ich auf jenen Roman, welchen ich hier als ein Muss für jeden kritisch denkenden Menschen vorstellen will.
Mit zu Teilen schwärzestem Humor erzählt der studierte Politikwissenschaftler vom Geschäft der Werbebranche. Und da Beigbeder selbsthin zehn Jahre als Texter in einer renommierten Werbeagentur arbeitete, weiß er, wovon er berichtet. Das allein überzeugte mich schon.
Die offensichtliche Abneigung gegen dieses Geschäft, die sich wohl im Laufe seiner Karriere als (Er-)Finder so manches bekannten Slogans entwickelte, ist Fundament des Buches und so bepackt er seinen Protagonisten mit Fantasien, die er sicherlich selbst zu ertragen hatte. Beigbeder, so mein Eindruck, legt seinem Helden Octave Parango seine Worte in den Mund und lässt ihn das tun, was er selbst gern getan hätte.
Verzweifelt, mit einer gehörigen Portion Selbsthass setzt Octave alles daran, seinen Job zu verlieren, geht ihm doch eines Tages ein Licht auf. Entweder ich, oder das Geschäft, die Karriere:

Zitat: "Alles ist käuflich: die Liebe, die Kunst, der Planet Erde, Sie, ich. Ich schreibe dieses Buch, um gefeuert zu werden. Wenn ich selbst gehe, gibt es kein Geld. Ich muss den Ast absägen, auf dem mein Komfort sitzt. Meine Freiheit heißt Arbeitslosenversicherung. Ich werde lieber von einer Firma entlassen, als vom Leben. DENN ICH HABE ANGST. Um mich herum sterben die Kollegen wie die Fliegen: Herzschlag im Schwimmbad, Myokardinfarkt als Legende für eine Überdosis Kokain, Absturz mit dem Privatjet, Karambolage mit dem Kabriolett. (…) Alles ist vorläufig, alles ist käuflich. Der Mensch ist eine Ware wie alle anderen, er hat ein Verfallsdatum. Deshalb bin ich entschlossen, mit 33 abzutreten. Offenbar das ideale Alter für eine Wiederauferstehung. (…) Ich heiße Octave und kaufe meine Klamotten bei APC. Ich bin Werber: ja, ein Weltverschmutzer. Ich bin der Typ, der Ihnen Scheiße verkauft. Der Sie von Sachen träumen lässt, die Sie nie haben werden. (…) In meinem Metier will keiner Ihr Glück, denn glückliche Menschen konsumieren nicht."

Octave hat alles. Geld, Frauen, Autos… Nur eines hat er nicht. Zeit sich diesem Luxus hinzugeben. Und glücklich zu sein, alles zu haben ist nur die eine Seite der vergoldeten Münze, die andere Seite eben ist der Genuss des Besitzes im "Sich damit beschäftigen".
Als Octave das Kokain für sich entdeckt, um noch besser zu sein, noch kreativer, um wacher zu sein, beginnt das Blatt sich zu wenden. Plötzlich fängt er an, darüber nachzudenken, was er tut. Fragen werfen sich auf und die Antworten gipfeln in einer abscheulichen Gewalttat.

Zynismus und wahre, unverfälschte Worte sind die Mittel, derer sich der Autor bedient, mit der Werbebranche, ja, mit und in sich abzurechnen. Und zwischendrin verliert er sich in philosophisch- essayistischen Monologen, ohne dabei die Sprache der Strasse zu vergessen. "Dreckig, feige und gemein" radiert er die Farbe aus den Bildern des Konsums und verleumdet selbstverräterisch eine Branche, die scheinbar mächtiger ist, als die Politik.

Als ich das Buch zum ersten Mal in der Hand hielt, wusste ich schon mit der ersten Seite, dass ich es kaufen muss. Es reichte mir nicht, es zu borgen, um es nach einmaligem lesen wieder abgeben zu müssen.
Nein, ich wusste sofort: "39,90" ist ein Roman, den ich mit Sicherheit öfter lesen werde. Darüber hinaus muss dieses Buch jedem in meinem Bekanntenkreis aufgedrängelt werden, denn: hier steht die Wahrheit eines Täters, dessen Taten ihn ebenso zum Opfer machen, wie er die seinen schafft. Hier ist beschrieben, was jeder kritisch denkende Mensch weiß, aber mit der Unterschrift eines Vertreters der Macht!

Marek Thiem



Werner Finck
Alter Narr - was nun?


Wer sich heute anspruchsvoll unterhalten lassen will, auf einem Gebiet, das beinahe ausgestorben ist, dem humoristischem nämlich, der kann im Grunde nur auf kleine Kaberettgruppen zurückgreifen oder ins Theater gehen. Das ist ja auch im ureigensten Sinne des Kabaretts, doch im Zeitalter des Fernsehens wäre es doch nicht zu viel verlangt, ein wirklich Anspruchsvolles Format diesbezüglich zu entwerfen. Sehen wir ab von Programmen wie Scheibenwischer, Quer oder Extra3.
So bleibt noch das Buch, für das Zurückgreifen auf die guten alten, ja, die goldenen Zeiten des Kabaretts.
Der letzte jener goldenen Zeiten war sicherlich Heinz Erhardt. An ihn erinnern sich viele. Doch wie viele Namen könnten Sie noch aufzählen, von denen, die den so genannten Comedy- Shows von heute den Weg bereiteten? Erinnern Sie sich an Otto Reuter? An Karl Valentin oder Wolfgang Neuss?
Wie ist es mit Werner Finck? Schon einmal gehört?

Ich persönlich kannte den Namen nicht, geschweige denn die Person dahinter. Eines Tages jedoch, ich besuchte den Bekannten eines Freundes, durchstöberte das üppige Bücherdepot, stieß ich auf ein Buch namens "Finckenschläge". Ich wunderte mich ob der Rechtschreibung, und wusste gleichzeitig, dass das kein Fehler sein kann. Dadurch neugierig geworden griff ich zu und so entdeckte ich das kleine Büchlein, das mir einen Menschen näher bringen sollte, den ich flugs zu schätzen lernte. Schnell, weil gerne gelesen, wollte ich mehr. Mehr Literatur von dem Mitbegründer des deutschen Kabaretts und mehr Informationen über die Person an sich.
Nun ist es ja immer das Beste, wenn man derlei Informationen aus erster Hand bekommt und so freute es mich zutiefst, erfahren zu haben, dass "Alter Narr - was nun?" eine Art Autobiographie des Werner Finck ist.
Ungeduldig wartete ich auf die Post, als ich es bestellte und mit Begeisterung las ich das vierhundertdreizehn Seiten schwere Buch, einmal, zweimal, dreimal.

Neben Gedichten und Kolumnen, die er für diverse Zeitungen schrieb, geht er genauestens auf die Zeit des dritten Reiches ein, in der er es, wie so viele Künstler, schwer hatte. Über den Konflikt mit den Nationalsozialisten stellte sich der innere Konflikt, etwas tun zu müssen, nicht aber Kopf und Kragen dabei zu riskieren. Doch ofthin tat er eben dies und so handelte er sich zuerst Schreibverbot ein und landete dann, nach mehreren Verhaftungen und Schließungen diverser Bühnen, im Konzentrationslager.
Seine Passion, das Wort beim Wort zu nehmen, den Ernst des Lebens zu verlachen, macht den Gründer der Partei "Radikale Mitte" (Berlin 1950) so grandios. Dass es sich bei jener Partei ausschließlich um Mummenschanz gehandelt haben kann, liegt auf der Hand.

1936 schreibt er in einer Zeitung, in welcher er über die Olympischen Spiele berichten soll einen Satz, der mir, einmal gelesen, wohl nie mehr aus dem Kopf gehen wird. Jesse Owens, jener Athlet der die Machtelite der NS Partei zum zittern brachte, lief schnell, zu schnell und Leni Riefenstahl selbsthin soll sich über die Leistungen des Sportlers geärgert haben. Fincks dokumentierende Aussage zu Riefenstahl: " "und plötzlich sieht sie's negativ, wie positiv der Neger lief. " Man verzeih Herrn Fink den politisch unkorrekten Begriff "Neger"…

Doch kann selbst der größte Schelm nicht immer heiter sein. Auch, wenn er versucht, selbst dem traurigsten Gedanken noch einen Spaß abzuringen. In einem Gedicht an seinen Sohn, das er in Gestapohaft schrieb, wird das sehr deutlich. Hier beschreibt er sich und sein Leben, wie es wohl keiner, außer ihm tun kann:
An meinen Sohn Hans Werner
Du brauchst dich deines Vaters nicht zu schämen,
Mein Sohn.
Und wenn sie dich einmal beiseite nehmen
Und dann auf mancherlei zu sprechen kämen,
Sei stolz, mein Sohn.

Sie haben deinem Vater reichlich zugesetzt,
Mein Sohn.
Ihn ein- und ausgesperrt und abgesetzt,
Sie haben manchen Hund auf ihn gehetzt -
Pass auf, mein Sohn:

Dein Vater hat gestohlen nicht und nicht betrogen,
Er ist nur gern mit Pfeil und Bogen
Als Freischütz auf die Phrasenjagd gezogen -
Und so, mein Sohn,

Kannst du den Leuten ruhig in die Augen gucken,
Mein Sohn.
Brauchst, wenn sie fragen, nicht zusammenzucken.
Ich ließ mir ungern in die Suppe spucken,
Das war's, mein Sohn.

Wie vieles hat der Wind nun schon verweht,
Mein Sohn.
Der Wind, nach dem ich mich noch nie gedreht -
Dass dir mein Name einmal nicht im Wege steht,
Gib Gott, mein Sohn!

Ein tragisches Gedicht, das imstande ist, den sprichwörtlichen Kloß im Hals zu formen. Auch hierzu ist Werner Finck fähig.
Doch ist "Alter Narr - was nun?" im Großen und Ganzen ein Buch, das selbst den so genannten Spaßbremsen das Schmunzeln lehrt, und so könnte ich hier ein Text, ein Gedicht nach dem anderen aufführen, um Ihnen das Buch nahe zu bringen, doch wäre es Frevel, die Passagen aus ihren Zusammenhängen zu reißen, weswegen ich nur sagen kann: Kaufen!

Marek Thiem



Monika- Marie- Rossa
Bitter Süss


Es gibt, vorwiegend in der Lyrik, einen Schreibstil, den ich, mit meinen laienhaften literarischen Kenntnissen, nicht wirklich festhalten kann. Worte, die scheinbar einfach sind, zusammengesetzt, ohne dass ein tieferer Sinn sich dahinter zu verstecken scheint. Keine Ausschweife, keine Ausdrücke die kraftvoll sind, alles, als sei es einfach nur aufgeschrieben, zusammengewürfelt. Gedichte, die vermuten lassen, ein Kind hätte sie geschrieben, die sich so einfach lesen lassen.
Und doch merkt man, dass da mehr ist. Plötzlich offeriert sich doch noch ein Sinn, neben dem schier offensichtlichen. Und beim zweiten Mal lesen, wenn die Oberfläche abgegrast ist und das Forschen beginnt, von der Frage ausgelöst: das kann doch nicht alles sein…?, zeigt das zu erst eher zweitklassige Gedicht einen Reiz, der sogleich ein schlechtes Gewissen macht, so gedacht zu haben. Nein, da ist nichts Zweitklassig. Da ist nichts oberflächlich. Und da ist erst recht nichts unbedacht zusammengeworfen.
Naive Kunst… so würde ich das nennen. Und auf einmal macht es Spaß, sich in die Welt der scheinbaren Einfachheit entführen zu lassen, ja, sich im ersten Moment vor-führen zu lassen.

In ihrem Debüt "Bitter Süss" gelingt das Monika- Marie Rossa auf verzaubernde Weise. Hier ist ein bisschen von jedem, ohne dass es zu viel wird. Im Gegenteil, wie bei jedem guten Buch ist es mir zu wenig und sehnsüchtig erwarte ich das zweite Buch von der "ehemaligen" Thüringerin.
Gedichte und Prosa vereinen sich zu einem Tanz durch ein Leben, das voll Licht und Schatten nie das Beobachten vergaß. Alles Fühlen dieses Lebens geht über in den Leser, schon weil die Worte so scheinbar einfach sind. Der Schmerz lässt sich teilen, wie die Freude, das erlebte Glück wird zum eigenen, wie Rückschläge mitgelitten werden.

Tränen
Die aus jeder Pore drängen
Die aus meinen Gliedern
Nasse Schwämme machen
Die meine Lungen
Zu ersticken trachten
Die meinen Körper
Millimeterweise nadeln
Nichts hält sie auf
Nichts löste sie aus
Zu
Heilen meine Seele


Ergänzt werden die Worte durch wundervolle Fotos der Autorin. Spätestens hier zeigt sich, dass ein tiefer Geist sich windet, oft hassen will, aber von der Liebe in sich zum Leben, zu den Menschen nicht bereit, ja, beinahe unfähig ist, lange Groll zu hegen.
Weich beschreibt Monika- Marie Rossa die Härte des Seins, die zum Glück nicht immer ist.
"Bitter Süss" ist ein Buch, dass man immer wieder lesen kann, ein Werk, dass es vermag, den vom Schicksal getrübten Kopf zu heben, nach vorn zu sehen, einfach weiterzugehen, ohne dabei wie ein "Denk-positiv- Pamphlet" daherzukommen.
Kurz: ein Gedichtband, das in ein jedes Buchregal gehört.

Marek Thiem



Wolfgang Borchert
Draußen vor der Tür


Wolfgang Borchert sollte eigentlich allen Literaturfreunden ein Begriff sein. Diejenigen unter Ihnen, die noch zu DDR- Zeiten zur Schule gingen, hatten vielleicht auch das Glück, Auszüge aus seinem Stück "Draußen vor der Tür" lesen und kennen lernen zu können.
Ich selbst konnte mit dem Namen nichts anfangen und ehrlich gesagt, weiß ich nicht einmal mehr, wie ich zu diesem Buch kam. Dass es mich schnell begeisterte, weiß ich jedoch zu sagen.
Nun halte ich es meist so, dass ich ein Buch erst lese und mir dann Informationen über den Autor besorge und so verfuhr ich auch mit jenem Werk. Was ich dann über Borchert erfuhr, verlieh dem Stück noch ein besonderes Quäntchen Tragik, erlebte doch, so schient es, vieles des hier niedergeschriebenen tatsächlich. Dies ist ja nun nichts außergewöhnliches, doch bewegt das Schicksal des Autors selbst schon.
Im Alter von nur sechsundzwanzig Jahren stirbt er in der Schweiz an einem Leberleiden. Mehrere Zuchthausaufenthalte und die so genannte "Frontbewährung" bringen den jungen Mann zweimal an die Ostfront, wo er sich Fußerfrierungen, Diphtherie, Gelbsucht und Fleckfieber zuzieht.
Der Krieg widert Borchert an. Doch, was ihn mehr zu beschäftigen scheint, ist das Heimkommen der Soldaten. Das Heimkommen in die Fremde. Das Heimkommen in zerstörte, zerbombte Städte. Das Heimkommen zu einer Frau, die sich inzwischen mit anderen Männern begnügt. Was Borchert beschäftigt, ist das Heimkommen in eine kalte, fremde Welt.
So beginnt das Stück nach einer neidvollen Klage Gottes, die derselbe in einem Gespräch mit dem Tod darbringt, damit, dass ein Mann am Ufer der Elbe in Hamburg sitzt, im Begriff, sich umzubringen. Doch selbst das Wesen des kalten Flusses spuckt ihn wieder aus, als wolle es ihn nicht haben. Wie so viele, die ihn nicht haben wollten, als er wiederkehrte, aus der todbringenden Fremde. Er, Beckmann, hat die Hölle überlebt, um in die Hölle zu kommen.
Verbittert irrt er umher, sucht das Haus, in dem er mit seinen Eltern wohnte, trifft eine Frau, die ihn nicht lieben kann und gelangt zum Haus eines Oberst, der an der Front sein Vorgesetzter war. Er betritt die Stube und findet die Familie am Essenstisch. Geniert offen verwickelt er den Oberst in ein Gespräch und bringt die Rede auf die Nächte nach dem Krieg, die so an ihm zehren, wie die Kälte, hier, in der Heimat:

    "Beckmann (schlaftrunken, traumhaft):
    Hören Sie, Herr Oberst? Dann ist es gut. Wenn Sie hören, Herr Oberst. Ich will Ihnen nämlich meinen Traum erzählen, Herr Oberst. Den Traum träume ich jede Nacht. Dann wache ich auf, weil jemand so grausam schreit. Und wissen wer das ist, der da schreit? Ich selbst, Herr Oberst, ich selbst. Ulkig, nicht Herr Oberst? Und dann kann ich nicht mehr einschlafen. Keine Nacht, Herr Oberst. Denken Sie mal, Herr Oberst, jede Nacht wachliegen. Deswegen bin ich müde, Herr Oberst, ganz furchtbar müde.

    Mutter:
    Vater, bleib bei uns. Mich friert.

    Oberst (interessiert):
    Und von Ihrem Traum wachen Sie auf, sagen Sie?

    Beckmann:
    Nein, von meinem Schrei. Nicht von dem Traum. Von dem Schrei.

    Oberst (Interessiert):
    Aber der Traum, der veranlasst Sie zu diesem Schrei.

    Beckmann:
    Denken Sie mal an, ja. Er veranlasst mich. Der Traum ist nämlich ganz seltsam, müssen Sie wissen. Ich will ihn mal erzählen. Sie hören doch, Herr Oberst, ja? Da steht ein Mann und spielt Xylophon. Er spielt einen rasenden Rhythmus. UN dabei schwitzt er, der Mann, denn er ist außergewöhnlich fett. Und er spielt auf einem Riesenxylophon. Und weil es so groß ist, muss er bei jedem Schlag vor dem Xylophon hin und her sausen. Und dabei schwitzt er, denn er ist tatsächlich sehr fett. Aber er schwitzt gar keinen Schweiß, das ist das Sonderbare. Er schwitzt Blut, dampfendes, dunkles Blut. Und das Blut läuft in zwei breiten, roten Steifen an seiner Hose runter, dass er von weitem aussieht, wie ein General. Ein General! Ein fetter, blutiger General. Es muss ein alter, schlachtenerprobter General sein, denn er hat beide Arme verloren. Ja, er spielt mit langen, dünnen Prothesen, die wie Handgranatenstiele aussehen, hölzern, und mit einem Metallring. Es muss ein ganz fremdartiger Musiker sein, der General, denn die Hölzer seines riesigen Xylophons sind gar nicht aus Holz. Nein, glauben Sie mir, Herr Oberst, glauben Sie mir, sie sind aus Knochen. Glauben Sie mir das, Herr Oberst, aus Knochen!

    Oberst (leise):
    Ja, ich glaube. Aus Knochen.

    Beckmann (immer noch tranceähnlich, spukhaft)
    Ja, nicht aus Holz, aus Knochen. Wunderbare weiße Knochen. Schädeldecken hat er da, Schulterblätter, Beckenknochen. Und für die hohen Töne Armknochen und Beinknochen. Dann kommen die Rippen - viele tausend Rippen. Und zum Schluss, ganz am Ende des Xylophons . Wo die ganz hohen Töne liegen, da sind die Fingerknöchel, Zehen, Zähne. Ja, als letztes kommen die Zähne. Das ist das Xylophon, auf dem der fette Mann mit den Generalstreifen spielt. Ist das nicht ein komischer Musiker, dieser General?
    (…)
    Ja, und nun geht es erst los. Nun fängt der Traum erst an. Also der General steht vor dem Riesenxylophon aus Menschenknochen und trommelt mit seinen Prothesen einen Marsch.
    (…)
    Und dann kommen sie. Dann zeihen sie ein, die Gladiatoren, die alten Kameraden. Dann stehen sie auf aus den Massengräbern, und ihr blutiges Gestöhn stinkt bis an den weißen Mond. Und davon sind die Nächte so. So bitter wie Katzengescheiß. So rot, so rot wie Himbeerlimonade auf einem weißen Hemd. Dann sind die Nächte so, dass wir nicht atmen können. Dass wir ersticken, wenn wir keinen Mund zum küssen und keinen Schnaps zum trinken haben. Bis an den Mond, den weißen Mond, stinkt dann das blutige Gestöhn, Herr Oberst, wenn die Toten kommen, die limonadefleckigen Toten.

    Tochter:
    Hört ihr, dass er verrückt ist? Der Mond soll weiß sein, sagt er. Weiß! Der Mond!

    Oberst (nüchtern):
    Unsinn! Der Mond ist selbstverständlich gelb wie immer. Wie'n Honigbrot! Wie'n Eierkuchen. War immer gelb, der Mond.

    Beckmann:
    O Nein, Herr Oberst, o nein. In diesen Nächten, wo die Toten kommen, da ist er weiß und krank. Da ist er, wie der Bauch eines schwangeren Mädchens, dass sich im Bach ertränkte. So weiß, so krank, so rund. Nein Herr Oberst, der Mond ist weiß in diesen Nächten, wo die Toten kommen und ihr blutiges Gestöhn stinkt scharf wie Katzendreck bis in den weißen kranken runden Mond. Blut. Blut. Dann stehen sie auf aus den Massengräbern mit verrotteten Verbänden und blutigen Uniformen. Dann tauchen sie auf, aus den Ozeanen, aus den Steppen und Strassen, aus den Wäldern kommen sie, aus Ruinen und Mooren, schwarzgefroren, grün, verwest. Aus der Steppe stehen sie auf, einäugig, zahnlos, einarmig, beinlos, mit zerfetzten Gedärmen. Ohne Schädeldecken, ohne Hände, durchlöchert, stinkend, blind. Eine furchtbare Flut kommen sie angeschwemmt, unübersehbar an der Zahl, unübersehbar an Qual. Das furchtbare unübersehbare Meer der Toten tritt über die Ufer seiner Gräber und wälzt sich breit, breiig, bresthaft und blutig über die Welt. Und dann sagt der General mit den Blutstreifen zu mir: Unteroffizier Beckmann, Sie übernehmen die Verantwortung. Lassen Sie abzählen. Und dann stehe ich da, vor den Millionen hohlgrinsender Skelette, vor den Fragmenten, den Kochentrümmern, mit meiner Verantwortung und lasse abzählen. Aber die Brüder zählen nicht. Sie schlenkern furchtbar mit den Kiefern, aber sie zählen nicht. Der General befiehlt fünfzig Kniebeugen. Die mürben Knochen knistern, die Lungen piepen, aber sie zählen nicht. Ist das nicht Meuterei, Herr Oberst? Offene Meuterei?

    (…)
    Beckmann, brüllen sie. Unteroffizier Beckmann. Immer Unteroffizier Beckmann. Und das Brüllen wächst. Und das Brüllen rollt heran, tierisch wie ein Gott schreit, fremd, kalt, riesig. Und das Brüllen wächst und rollt und wächst und rollt! Und das Brüllen wird dann so groß, so erwürgend groß, dass ich keine Luft mehr kriege. Dann muss ich schreien, so furchtbar, furchtbar schreien. Und davon werde ich dann immer wieder wach."

Der zieht weiter durch die Strassen, auf der Suche nach Essen, nach Schlaf, auf der Suche nach Ruhe und Vergebung.

Es ist bemerkenswert, in welch jungen Jahren Borchert dieses Meisterwerk der so genannten "Trümmerliteratur" schrieb und beweist gleichzeitig, was dieser Mensch, wie so viele, viele andere, durchleben musste.
"Draußen vor der Tür" ist ein literarisches Mahnmal an alle Generationen, an alle Völker, alle Menschen, die Schrecken des Krieges nicht zu vergessen und aus ihnen zu lernen. Borchert scheint daran zerbrochen, und stellt stellvertretend für Millionen ein Manifest: Nie wieder Krieg!

Marek Thiem



Auszug aus dem Buch "Drei über die Grenze" von Hans Habe:

Minz, ein Schriftsteller aus Deutschland trifft in Wien auf andere Emigranten, wie etwa Nora, eine der Hauptakteure. Warum er selbst in Emigration lebt, ist unklar. Man liest in der Tageszeitung von der Bücherverbrennung in Berlin.

"Ich weiß nicht, man hat gestern meine Bücher nicht verbrannt" ,-sagt Minz ganz weinerlich, als hätte man ihm ein schweres Unrecht zugefügt. "Wodurch ich mir das verdient habe! Es wird einst eine Schande sein, nicht verbrannt worden zu sein. Zwanzigtausend Bücher haben sie auf dem Opernplatz zusammengetragen. In Autobussen und Möbeltransportwagen. Auf einem Lastwagen fuhren sie das Bild des großen Forschers zur Verbrennung."
Ja, Nora hat es auch gelesen. Aber Minz weiß Einzelheiten. "Die Studentenschaft marschierte voran. Die Burschen trugen Tafeln mit der Inschrift: Schreibt der Jude deutsch, dann lügt er . Auf dem Belle Allianceplatz haben sie ein Schandmal errichtet. Einen übermannshohen, klobigen Baumstamm haben sie aufgeführt und die undeutschen Schriften daran genagelt. Ich hoffe immer noch, dass meine Schriften dabei waren. Man könnte es sonst nicht verantworten vor der Literaturgeschichte."
Und nach einer kleinen Pause, ernster: "Ja sehen sie, mein Fräulein, das war ein Ehrentag des deutschen Buches. Ehrentag hin, Ehrentag her: das sind Phrasen, meinen sie? Sie werden mich gleich verstehen. Sie müssen begreifen, was es heißt, wenn man tote Gegenstände, und das sind Bücher schließlich, verbrennen muss. Muss, sage ich ihnen. Mit Konzentrationslagern war es nicht getan. In die Stadtbibliotheken mussten sie eindringen, Bücher auf Lastautos verladen. Ein Triumphzug des deutschen Buches war es. Denn gefährlich waren sie, jawohl, gefährlich, diese deutschen Bücher in den Regalen der Bibliotheken. Die ganze Kultur möchten sie am liebsten auf den Scheiterhaufen schleppen, die Herren, die gefährliche deutsche Kultur.
Aber da ist nichts zu machen, glauben sie mir, da können sie Freudenfeuer anzünden und Schandpfähle errichten, soviel sie wollen. Die wissen ganz genau, worum es geht. Die Banausen haben der Kultur den Krieg erklärt, in diesem Krieg ist jedes edle deutsche Wer ein vergifteter Pfeil. Haben sie die Photographien gesehen in den heutigen Abendblättern?"
Und Minz greift nach einer Zeitung, er zieht sie einem überraschten, indignierten Herren fort, das ist ihm jetzt gleichgültig. "Sehen sie sich diese Bilder an, mein Fräulein, sehen sie sich das einmal an, fällt ihnen nichts auf? Denken sie doch einmal an Kriegsphotographien. Na ja, sie sind zu jung, daran können sie sich nicht mehr erinnern, aber ich kann mich erinnern, ganz genau sogar, so wurde es dargestellt, wenn unsere braven deutschen Truppen Munition erbeutet hatten, sehen sie nur, wie die Lastwagen durch die Strassen rollen, und Bewaffnete singen auf den Wagen, und das Volk jubelt, erbeutete Munition. Sieg auf dem Schlachtfeld Bibliothek Kreuzberg. Unseren heldenhaften Soldaten ist es gelungen, 62 Bücherregale zu erstürmen, der Feind musste 800 Bände Erich Maria Remarque auf dem Schlachtfeld zurücklassen, ist es nicht ein schöner Sieg? JA, ich sage ihnen, ein Fräulein, die wissen, was sie tun, die wissen, was unsere Munition wert ist. Was sie nicht wissen, ist aber, dass wir noch Vorräte haben, Vorräte, unerschöpflich."
[…]

Rezension
(Marek Thiem.) Ein gelungener Monolog in einem eher tristen, prosaistischem Roman, über drei Emigrantenschicksale in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts.
Zwischen langweiligen Ist- Beschreibungen aber gelingt es dem Autor immer wieder, seinen Akteuren Monologe, Dialoge führen zu lassen, die all das, meiner Meinung nach Irrelevante wett zu machen vermögen. Stellenweise muss ich mich durch das Buch kämpfen, dann wieder ist es aufschlussreich, politisch anspruchsvoll und spannend. Es gilt zu sagen: Lesenswert.



Götz Aly
Im Tunnel - Das kurze Leben der Marion Samuel 1931 - 1943


Verlieren wir unsere Würde, wenn wir uns erinnern oder gewinnen wir diese Würde gerade durch das Erinnern wieder zurück?"
(Aus dem Nachwort von Walther Seinsch)

Auf leeren Plätzen
Mit Spinnenweben gefesselt von Drahtnetzen
Wachsen Schuhhaufen, Schuhe von Leichen:
Kleine Schuhe, Kinderschuhe, Herrenschuhe,
Mädchenschuhe.

(Erste Strophe eines Gedichts, das ein zwölfjähriges Mädchen Ende 1943 in Majdanek schrieb)

Ich bin kein Freund von biographischen Berichten. Im Gegenteil, denn mir fehlt das Interesse, es sei denn, es geht um eine Person, die ich schätze.

Als ich Götz Alys Buch bei der Landeszentrale für politische Bildung bestellte, dachte ich, es handele sich hierbei um eine Erzählung. Dem war aber ich nicht so. Und als ich meine vorurteilsbehaftete Abwehrhaltung gegen solcherlei Literatur überwunden habe, las ich es gern ungern.
Hochachtungsvoll und mit immer wachsendem Respekt erarbeitete ich mir Seite für Seite. Ich wollte wenigstens eine Geschichte, wenigstens ein beinahe voll ausgeleuchtetes Lebensschicksal, um mir vorstellen zu können, welch Leid so viele Menschen durchlebten.
Ich las es gern ungern, schrieb ich oben. Warum? Nun, gern, weil ich Achtung vor der wirklich bis ins Detail recherchierten Arbeit Götz Alys habe, weil ich teilhaben konnte, an einem Leben, an einem Leid, dass so unvorstellbar ist. Nicht, dass ich mich daran weide, vielmehr ist es das Streben zu fühlen, um zu verstehen, um zu erfahren.
Ungern las ich es, weil es solch Berichte gibt. Weil es sie geben muss, damit nichts vergessen wird. Ungern, weil so viel geschah, weil es "echt" ist, keine einfach erfundene Geschichte, sondern Geschichte!

Marion Samuel, ein kleines, jüdisches Mädchen, das starb, ob der Verblendung wahnsinniger "Übermenschen". Marion Samuel, ein kleines Mädchen, das nicht verstand, warum all das geschieht. Marion Samuel, ein Mädchen, das Angst hatte, Todesangst! Marion Samuel, ein Kind von Tausenden. Ein Kind, mit Todesangst.

Neben vielen anderen Personen macht Götz Aly eine Schulkameradin von Marion Samuel ausfindig. Sie erinnert sich gut und berichtet von dieser Todesangst eines Kindes:

    "Ich wohnte in der Kopenhagener Str. 66, und eines Tages nach 18.00 schickte mich meine Mutti in die Apotheke Rhinower Str./ Ecke Gleimstr., um eine Arznei abzuholen. Vor ihrer Haustür stand Marion, die ein paar Tage in der Schule fehlte. Auf meine Frage, warum sie nicht in der Schule war, sagte sie, sie wäre krank gewesen. Jetzt warte sie auf ihre Mutti. Als ich wieder zurück kam, stand sie immer noch da, es muss kurz vor 19.00 gewesen sein. Wir sprachen noch miteinender, warum die Mutti so ungewöhnlich spät noch nicht zu Hause war. Plötzlich fing sie an zu weinen u. sagte, sie hätte Angst. Ich war verwundert, denn sie sagte: 'da gehen Menschen durch einen Tunnel im Berg u. da ist auf dem Weg ein großes Loch und alle werden reinfallen und sind weg.' Ich dachte, sie spinnt und ich fand es gruselig.

    Nach diesem Tag im Mai 1938 hat Hilma Kaul ihre ehemalige Mitschülerin Marion Samuel nicht mehr gesehen"

Immer und immer wieder lese ich besonders diesen Absatz. Langsam. Deutlich. Ich lese ihn mir laut vor, lese ihn leise, versuche, eine Kinderstimme zu hören, aber da ist nichts.
Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie in einer der KZ- Gedenkstätten sind, in Buchenwald, Auschwitz, in Theresienstadt, in …, und nichts fühlen? Sie fühlen nichts. Nur diese Beklemmung. Ja, so eine fremdartige Beklemmung. Vergeblich versuche ich auch hier, etwas zu fühlen. Doch nur schlechtes Gewissen will sich mir aufdrängen, eben weil ich nichts fühle, weil ich es mir nicht vorstellen kann, dieses Leid. Dieses unsägliche Leid Millionen Fragender.

Der Autor beleuchtet die gesamte familiäre Biographie der Marion Samuel bis hin zu ihren Urgroßeltern. Er macht Überlebende der Familie ausfindig, die noch Besitz einiger Fotos sind. So bekommt nicht nur das kleine jüdische Mädchen ein Gesicht, sondern auch Vater, Mutter, die Großeltern…
Er geht zurück in die Geschichte, lässt nichts unversucht, mehr zu erfahren, um mehr berichten zu können, um das kurze Leben der Marion Samuel, stellvertretend für so viele kurze Leben, dem Leser, ja, den nachfolgenden Generationen zu beschreiben, um nichts vergessen zu machen.

Marion Samuel wird 1943, nachdem sie zunächst allein und ohne Eltern zwei tage in einem Sammellager festgehalten wird, mit ihrem Vater Ernst Samuel nach Auschwitz deportiert und ermordet:

    "Ernst Samuel überlebte also das System >Vernichtung durch Arbeit< genau 61 Tage lang. Marion Samuel jedoch war noch ein Kind, dazu ein Mädchen. Die SS Männer stuften sie daher keinesfalls als arbeitsfähig ein. Am Vormittag des 4. März 1943 wurde Marion Samuel endgültig von ihrem Vater getrennt und anschließend zu einer der beiden älteren Gaskammern in Auschwitz Birkenau, genannt Bunker I und II, geführt. Diese waren in ehemaligen Bauernhäusern installiert; die modernen Gaskammern und Krematorien, die heute für den Begriff Auschwitz stehen, sind erst kurze Zeit später fertig gestellt worden.
    (…)
    Daher wurden die mehr als 2000 Juden, die an diesem 4. März 1943 ermordet worden waren, in der folgenden Nacht von Angehörigen eines Häftlings- Sonderkommandos in großen, etwas abgelegenen Gruben verbrannt. Später wurden die Gräben mit Erde zugeschüttet, doch gibt der Regen an diesen Stellen des Geländes von Auschwitz- Birkenau bis heute immer wieder Knochenreste frei."
    br"Ernst Samuel überlebte also das System >Vernichtung durch Arbeit< genau 61 Tage lang. Marion Samuel jedoch war noch ein Kind, dazu ein Mädchen. Die SS Männer stuften sie daher keinesfalls als arbeitsfähig ein. Am Vormittag des 4. März 1943 wurde Marion Samuel endgültig von ihrem Vater getrennt und anschließend zu einer der beiden älteren Gaskammern in Auschwitz Birkenau, genannt Bunker I und II, geführt. Diese waren in ehemaligen Bauernhäusern installiert; die modernen Gaskammern und Krematorien, die heute für den Begriff Auschwitz stehen, sind erst kurze Zeit später fertig gestellt worden.

Viel mehr gibt es zu diesem Buch nicht sagen, außer eben die glänzende journalistische Leistung Götz Alys und die dringliche Empfehlung zu betonen, dieses Buch unbedingt zu lesen.
Abschließen will ich an dieser Stelle mit den Worten von Walther Seinsch, der das Nachwort von "Im Tunnel - das kurze Leben der Marion Samuel 1931-1943" verfasste:

    "Wir müssen forschen, dokumentieren und erinnern - auch weil die Lügner, Verschleierer, Relativierer und Schlussstrich- Befürworter weiter am Werk sind. Sie versuchen mehr oder weniger intelligent, abgebrüht und kreativ, die Fakten umzubiegen, dem Vergessen, Verdrängen, Beschönigen und der Flucht aus der Verantwortung das Wort zureden. All das bedeutet letztlich, die Opfer, auch Marion Samuel, zu missachten.

Marek Thiem



Erich Maria Remarque
Liebe deinen Nächsten


Erich Maria Remarque wurde bekannt durch seinen Roman "Im Westen nichts Neues", einem ergreifenden Buch über Schicksal, Sinn und Unsinn des ersten Weltkrieges.
Der pazifistische "Bericht von der Westfront" stellt allerdings weitere, sehr lesenswerte Romane Remarques in den Schatten. Auf der Suche nach weiterer Literatur stieß ich einst, eher zufällig auf einen ergreifenden Roman, der meiner Meinung nach über seinem berühmtesten Werk steht.
In "Liebe deinen nächsten" beschreibt er Emigrantenschicksale in den dreißiger Jahren.
Die Flucht aus Deutschland verschlägt den Protagonisten Ludwig Kern zunächst nach Prag. Der Sohn eines Juden lernt hier, was es heißt, heimatlos zu sein und beginnt, sein Leben zu reorganisieren. In einer Absteige für Flüchtlinge lernt er Ruth Holland, ebenfalls eine Jüdin kennen. Die erste Ausweisung lässt nicht lange auf sich warten, er geht nach Österreich, wo er in Wien seinen "Lehrer" trifft. Josef Steiner ist ein Mensch, den man wohl am ehesten mit dem Begriff Lebenskünstler beschreibt. Er nimmt sich des zwanzig Jahre jungen, sehr unerfahrenen Kern an und führt ihn in die Relevanzen des Emigrantendaseins ein. Handel mit Kleinkram, Schwarzarbeit und Hausieren sind die Einzigen Möglichen, halbwegs ehrlich sein Brot zu verdienen, das dennoch selten für den nächsten Tag reicht.
Kern trifft Ruth Holland wieder, es entwickelt sich eine Romanze, die jedoch nicht im Klischee eines Liebesromans geschrieben ist. Im Gegenteil, die Last liegt auf dem Gemeinsamen Schicksal, der Leser fühlt und freut sich mit, trauert und fiebert mit.
Mit einer ungeheuren Kraft vermag es Remarque, das Schicksal von Millionen auf wenige Personen zu projizieren, ohne dabei jene Million zu vergessen, gar zu verdrängen.
Der Leser lernt viele Menschen kennen, nimmt Teil an ergreifenden Diskussionen voll Mut und Hoffnung, Resignation und Leid und tangiert vorsichtig aber bestimmt das politische Sein der dreißiger Jahre.
Er ist bei Verhaftungen dabei, sieht zu, wenn wieder einmal um eine Aufenthaltsgenehmigung gebettelt wird, wird mit von der Schweiz nach Österreich ausgewiesen und flüchtet noch in der selben Nacht mit zurück.
Intelligent und doch auf eine seltsame Weise naiv scheinend, beschreibt der die stete Flucht in Mitteleuropa. Nie langweilig, immer mitnehmend.

Erst durch "Liebe deinen Nächsten" wird man aufmerksam auf die vielen vergessenen Opfer der Nazidiktatur. Wer weiß schon etwas über das Emigrantentum, das ausgelöst von der feigen Tyrannei der NS- Schergen, vielen Menschen Lohn und Brot, Heimat und Leben raubte.
In diesem Buch nimmt man teil, erfährt viel über das Leben und Fühlen, über Leid und Schmerz, aber auch Freude und das sprichwörtliche Glück im Unglück eines Flüchtlings.

Zitat:
"Marill schenkte sich einen Kognak ein. Er benutzte ein Wasserglas dazu, das die Aufschrift trug: Gare de Lyon. Es war eine Erinnerung an seine erste Verhaftung, und er schleppte es immer mit sich herum. Er trank das Glas mit einem Ruck aus. "Eine aufschlussreiche Chronik!" erklärt er dann. "Es lebe die Vernichtung des Individuums! Bei den alten Griechen war Denken eine Auszeichnung. Dann wurde es ein Glück. Später eine Krankheit. Heute ist es ein Verbrechen. Die Geschichte der Kultur, ist die Leidensgeschichte derer, die sie schufen."
Steiner grinste ihn an. Marill grinst zurück. Im selben Augenblick begannen draußen die Glocken zu läuten. Steiner blickte in die Gesichter rundum - die vielen kleinen Schicksale, die vom Wind des Schicksals hierher zusammen geweht worden waren -, und erhob sein Glas. "Vater Moritz!" sagte er "König der Wanderer, letzter Nachkomme Ahasvers*, ewiger Emigrant, sei uns gegrüßt! Weiß der Teufel, was dieses Jahr uns bringen wird! Es lebe die unterirdische Brigade! So lange man da ist, ist nichts verloren!"
Zitatende

Dieses Buch ist eines der Kategorie, bei der man jede gelesene Seite bedauert, weil sie das Ende ein Stück näher bringt. Man will mehr wissen und ist am Ende, so ging es mir, traurig darum, dass es so schnell gelesen ist, ergriffen vom Inhalt, bewegt von der Tatsache, dass zwar die Geschichte an sich fiktiv ist, aber hundertfach stattfand und vergisst darüber lange nicht, wovon Remarque berichtet.

Die Neugierde geweckt, bin ich inzwischen auf der Suche nach Vergleichbarer Literatur, doch kommt keines der gefundenen Bücher an "Liebe deinen Nächsten" heran.
Der Autor besticht durch einen wundervoll bildlichen Sprachstil, wie es ihn nur in der Zeit bis in die fünfziger Jahre gab. Niveauvoll und dennoch irgendwie dreckig.
Ein Meisterwerk und Muss für ein jedes Bücherregal.


*Der Ewige Jude namens Ahasveros (Ahasverus; auch Cartaphilus, Buttadeus u.a.) ist eine Figur aus der christlichen Legendenbildung. Er ist durch eine anonyme deutschsprachige Schrift, das Volksbuch vom Ewigen Juden, gedruckt erschienen in Leiden 1602, in ganz Europa bekannt geworden, ging von da aus in die Volkssagen ein und wurde seither in zahlreichen literarischen Werken, in Kunst und Musik thematisiert > Quelle: Wikipedia



Frank Goosen
"Mein Ich und sein Leben"


Wann haben Sie zum letzten Mal an ihre Schulzeit gedacht? Oder an die erste Liebe? Die Freundschaften ihrer Jugend?

Ich erschrak etwas, als mich Frank Goosen amüsant in jene Zeit katapultierte, da tyrannische Sportlehrer mit nicht weniger bösen Kunstlehrerinnen scheinbar Pläne zu schmieden schienen, wie man den unliebsamen Schüler X am ehesten in den Wahnsinn treiben kann, ohne vor dem Kollegium oder gar einer Kommission der Schulbehörde Rede und Antwort stehen zu müssen, ob des unmenschlichen Verhaltens, dass am Ende dazu führte, dass… aber sei es drum, denn es geht ja hier um Herrn Goosen, den Romanautoren, den Kabarettisten, der mit seinem 2003 erschienenen dritten Roman “Mein Ich und sein Leben” den Leser wahrlich an sich selbst zu erinnern vermag.

Der Episodenroman liest sich leicht, ohne dass an gewissem Anspruch gespart wurde. Gegenteilig benutzt Goosen eine Sprache, die sich zwischen dezent ordinärem Strassenslang und gehobenem Anstand bewegt, was das Ganze allein schon wie Butter macht, durch welche sich der Leser gleich einem Messer zu bewegen imstande ist.

Noch vor seiner Geburt beginnt das Buch, zu erklären, wie es dazu kam, dass es zu ihm kam und schon auf der ersten Seite, mit dem ersten Satz weckt er selbst im müdesten Gesicht ein Lächeln:
    “Es ist nicht so, dass es in meiner Familie und ihrer Umgebung ausschließlich Wahnsinnige gegeben hätte. Aber manchmal, wenn man sie voneinander reden hört, wenn das Gen der Gehässigkeit und der üblen Nachrede aktiviert ist, kommt man schon ins Grübeln.
    In Meinem Kopf ist das alles gespeichert als das Gerede von “Erwachsenen”, auf diesen Familienfeiern aufgeschnappt und unverdaut in meinem Hirn eingelegt, haltbar wie Leichenteile in Formaldehyd. Familienfeiern: immer nur Krankheit, Tod und Seuche. Wer wieder alles an “Krepps” verreckt war und wer an Staublunge, dem Ritterschlag unter den Krankheiten in unserer Gegend.
    Als Kind hatte ich immer wieder Angst, die Erwachsenen würden sich plötzlich ausziehen und ihre Narben vergleichen, und seitdem ich mal meine Großtante Wally durch Zufall und das geöffnete Badezimmer nackt gesehen hatte, wusste ich, dass auch meine Neugier Grenzen hat.”
Jene Art zu schreiben nutzt Goosen, seine Vergangenheit und die seiner Mitmenschen aus Episoden zusammenzusetzen. Er springt dabei von einer Zeit in die nächste doch verliert man sich dabei nicht in einem Wirrwarr chaotischer Unzusammenhänge.

Der Leser lernt die besten Kumpels der Schulzeit, Spüli, Pommes und Mücke kennen und erinnert sich plötzlich, dass Lehrer grausam sein können:
    “Das andere Fach, in dem man sich zum kompletten Idioten machen konnte, ohne etwas dafür zu können, war Sport.

    Sportlehrer haben es besonders leicht, sich beliebt zu machen. Sie lassen halt Fußball spielen. Und machen dabei gerne mit, weil sie mit Mitte vierzig und kaputten Knien und nachdem es mit der Karriere beim Kreisligisten “Post SV” nicht hingehauen hat, gern ein paar fünfzehnjährigen zeigen wollen, wo der Libero den Ball holt. So einer war M. Am eindrucksvollsten war die Szene, als er mit dem Ball am Fuße die Mittellinie überschritt und dort vom rothaarigen Uli, der auch im Verein Verteidiger spielte, angegriffen wurde. Vielleicht geriet der arme M. in Panik, vielleicht hatte er was am Auge und wähnte sich tatsächlich in “aussichtsreicher Position”, jedenfalls zog er plötzlich unvermittelt vollspann ab. Das Tor wäre nur unter Ausschaltung einiger grundlegender physikalischer Gesetze zu treffen gewesen - im Gegensatz zu Ulis sechzehnjährigen Hoden. Noch heute meine ich zu sehen, wie sie hart getroffen durch seinen Oberkörper rasten, um kurz an den Ohren herauszuschauen und dann wieder langsam abzusinken. Ob sie jemals wieder im Sack ankamen, ist nicht sicher.
    Jedenfalls blieb Uli am Boden liegen, kämpfte mit der Bewusstlosigkeit und musste am nächsten Tag zum Arzt, weil sein Sack aussah wie ein Briefbeschwerer für sehr große Briefe. Und M. grinste.”

Solcherlei Anekdoten aus der Schulzeit gibt es viele, bevor Frank Goosen über Klassenfahrt und erste Liebe zum Erwachsenwerden und Erwachsensein kommt. Und auch hier merkt man schnell, dass der Alltag eben Alltag der Masse ist und sich Eckdaten dessen auf jedes Menschen Leben projizieren lassen.

Eine Frau geht, einst kommt eine andere, die dann die oft geglaubte “richtige” ist, und man(n) doch am Ende wieder alleine steht, deren Nachfolgerin anzuwerben.

Und mit zunehmendem Alter wird auch die Frage, meist gestellt vom weiblichen Part in der Beziehung, nach einem Kind reeller, fester, und nicht selten auch sogleich mit einem Ausrufezeichen versehen. Und wo ein Kind nahe ist, ist die Ehe nicht weit:

    “… Vielleicht hatte ich es auch verstanden, im Sinne von “gehört”, nicht aber verstanden im Sinne von “begriffen”
    Ich sagte: “Könntest du das bitte noch einmal wiederholen?”
    “Wenn wir eh zusammen bleiben wollen, können wir eigentlich auch heiraten, oder?”
    “Wen sollen wir denn heiraten?”, entgegnete ich verwirrt.
    “Na ja”, sagte sie, “ich dachte, ich heirate dich und, du heiratest mich, dann könnten wir in der gleichen Wohnung bleiben.”
    Ja, aber ist heiraten denn nicht spießig?”
    “Nein, das war früher.”
    “Ach so.”
    “Frag mal deinen Steuerberater””
Er fragt seinen Steuerberater, der ihn schnell vom Nutzen der Ehe überzeugt und bald darauf entfacht sich jener Dialog, der der Abschluss meiner Zitatreihe sein soll:

    “”Ich nehme natürlich deinen Namen an”, sagte meine Freundin, meine Konkubine, meine Intensiv- Mitbewohnerin, SIE eben.
    “Wie bitte?” Ich dachte, ich hätte mich verhört.
    “Doppelnahmen finde ich albern.”
    “Du könntest doch deinen eigenen Namen einfach behalten.”
    “Wie sollen dann unsere Kinder heißen?”
    “Was meinst du mit Kindern?”
    “Du weißt schon, diese kleinen Wesen, die einem aus dem Bauch wachsen, sehr viel Geld kosten, einen jahrzehntelang in den Wahnsinn treiben und dann in ein Altersheim abschieben.”
    Ich runzelte die Stirn. “Sind die nicht verboten worden?”
    “Leider nicht.”
    “Ist man denn verpflichtet, welche zu machen?”
    “Ja sicher! Hast du das noch nicht mitbekommen? Stand neulich in der Zeitung”
Ob es nun zu Kind und Ehe kommt, soll an dieser Stelle verschwiegen werden, schließlich ist es meine Aufgabe, das Buch schmackhaft zu machen, denn auch hier kann und will ich sagen, dass es ein Pflichtexemplar für jedes gut sortierte Regal darstellt.

Es geht weiter um Frauen, Reisen, Freundschaften, Jugendliche, denen er kein Geld für Essen gibt nachdem sie ihn anschnorren und blöd gucken, als er die Frage nach dem Warum damit beantwortet, dass er sein Geld nur für Drogen spendet, es geht um Hotels, WGs und so manches mehr. Und nie fallen die Mundwinkel wirklich nach unten, in einem bösen Blick zu verharren, sondern bleiben zu einem fröhlichen Grinsen erstarrt, bis auch das letzte Wort der letzten Seite aufgesogen ist.

“Mein Ich und sein Leben”, ein Episodenroman für alle und wie gesagt, ein Muss, für Freunde der guten Literatur.

Marek Thiem